
Maria und die Lokalbahn
Mit Zug 210 durchs Morgengrauen
Mit Zug 210 durchs Morgengrauen
Eine Fahrt mit Lokführerin Maria Windegger und der Seele der Fichtentaler Lokalbahn
Mittwoch, 13. März 2025. Die Uhren zeigen 06:02 Uhr. Am Horizont über dem Fichtental liegt das erste silberne Licht eines kalten Frühlingsmorgens. Es hat minus zwei Grad, und auf den Wiesen glänzt noch eine dünne Reifschicht. Der Himmel ist klar – nur über dem Fichtensee hängt ein Nebelschleier wie aus Watte, ruhig, geheimnisvoll. Die Bahnsteigbeleuchtung am Bahnhof Fichtental wirft gelbe Kegel auf das feuchte Pflaster.
Dann, fast lautlos, rollt der Elektrotriebwagen der Tiroler Oberland Bahn (TOB) ein. Zug 210, Linie R20, bereit zur Abfahrt in Richtung Markt Greisendorf. Am Steuer: Maria Windegger, 28 Jahre, Lokführerin aus Leidenschaft. Es ist ihre erste Fahrt des Tages – und sie liebt diesen Moment.
Mehr als nur ein Arbeitsweg
Maria ist keine, die viele Worte macht – aber ihre Augen erzählen dafür umso mehr. "Ich brauch kein Radio, keine Podcasts, keine Action", sagt sie, als wir im Führerstand Platz nehmen dürfen. "Ich hab die Landschaft. Die Strecke. Die Leute."
Die R20 ist das Rückgrat der Fichtentaler Lokalbahn (FLB): 22 Kilometer, 22 Haltestellen, rund 60 Minuten Fahrzeit. Im annähernden Halbstundentakt verbindet sie Dörfer, Berghänge und das Herz des Tals – Fichtental und Markt Greisendorf. Und das seit 1901.
Die R20 ist nicht allein: In der Hauptverkehrszeit rollt zusätzlich die R23 zwischen Fichtental und Innerfichtental. Schnellverbindungen bietet der RE21, der nicht an jeder Station hält. Und dann ist da noch der RE22 – der historische Nostalgiezug, mit dem Maria regelmäßig fährt. In originaler Uniform, mit Dampfpfeife und Holzbank-Waggons.
"Jede dieser Linien hat ihre eigene Seele", sagt Ulrich Obermayr-Kirchner, Haupt- und Mitinhaber der TOB. "Die R20 ist die Konstante. Die, auf die du dich immer verlassen kannst – wie Maria selbst."
Lichtspiele entlang des Fichtensees
Pünktlich um 06:14 Uhr verlässt Zug 210 den Bahnhof Fichtental. Die Fenster beschlagen leicht. Hinter Fichtental Stadt beginnt der wohl malerischste Abschnitt: Der Zug folgt dem Südufer des Fichtensees, vorbei an Zell am Fichtensee und Seeblick. Der Himmel ist inzwischen leicht rosig gefärbt. Maria greift automatisch etwas fester in den Fahrkrafthebel.
"Das Licht ändert sich hier jeden Tag. Und manchmal hab ich das Gefühl, der See merkt, wie ich fahr."
In Moosbach-Sägewerk steigen drei junge Männer mit Thermoskannen ein. Sie nicken ihr zu. Es sind vertraute Begegnungen zwischen Menschen, die täglich einen Abschnitt ihres Lebens miteinander teilen – auch ohne viele Worte.
Klammfurt – Wasserfall im Morgenlicht
Um 06:55 Uhr erreicht der Zug Klammfurt. Hier rauscht der Wasserfall – selbst im März ein majestätisches Schauspiel. Das Licht trifft den aufsteigenden Nebel und erzeugt einen zarten Regenbogen über der Brücke.
Zwei Touristinnen aus Dresden steigen aus – mit Kamera und Wanderkarte. "Wir haben gehört, man muss den Wasserfall im Frühlicht sehen", sagt eine. "Aber dass man mit dieser kleinen Bahn so direkt vorbeifährt – das ist was Besonderes."
Eine Strecke mit Anspruch
Zwischen Mühlwies und Markt Greisendorf wird es technisch herausfordernder. Enge Kurven, kleine Steigungen. Maria bleibt ruhig, fokussiert, ohne dabei unnahbar zu wirken. Sie winkt einem Förster zu, der an einem Übergang steht.
"Viele winken zurück – vor allem Kinder. Und manchmal auch Rehe", sagt sie und lächelt leise.
Stimmen im Zug
Herr Lang, 74, sitzt wie immer auf Platz 7 links. Er fährt jeden Mittwoch zum Probenfrühstück seines Chores. Dort trifft sich eine kleine, verschworene Gruppe älterer Herren und Damen in einem holzgetäfelten Saal des Gemeindehauses, wo sie gemeinsam singen, lachen und Erinnerungen austauschen.
"Es geht nicht nur ums Singen. Es geht um Gemeinschaft, um das Gefühl, gehört zu werden. Der Zug bringt mich nicht nur dorthin – er bringt mich auch ein Stück zu mir selbst zurück", sagt er. "Wenn die Sonne zwischen den Bäumen durchblitzt, dann weiß ich: Ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort."
Neben ihm sitzt eine junge Mutter mit Babytrage. "Der Zug ist leiser als der Bus. Und man hat einfach mehr Luft. Mein Sohn schläft hier immer."
Ankunft und Ausblick
07:14 Uhr, pünktlich. Markt Greisendorf. Der Bahnsteig dampft im klaren Morgenlicht, das Thermometer zeigt 1°C. Fahrgäste eilen davon, Maria bleibt einen Moment sitzen. "Ich mag diesen kurzen Moment vor der Rückfahrt. Er gehört nur mir."
Ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2025 wird Markt Greisendorf noch stärker an das überregionale Bahnnetz angebunden: Dann besteht dort Anschluss an einen Regionalexpress (RE) in Richtung Innsbruck Hauptbahnhof. Die Fahrt wird rund zweieinhalb Stunden dauern und bietet den Reisenden aus dem Mühlenbachtal eine beinahe direkte und bequeme Verbindung in die Landeshauptstadt.
07:26 Uhr rollt der Zug wieder zurück Richtung Fichtental – mit neuen Gesichtern, neuen Geschichten. Aber derselben Ruhe und Würde.
Was bleibt
Die Fichtentaler Lokalbahn ist keine Bahn für Eilige – sondern für Menschen, die noch hinschauen. Sie ist Erinnerung und Gegenwart. Technik mit Gefühl. Und sie ist Heimat für Menschen wie Maria Windegger, die zeigen, dass Verantwortung auch etwas Zärtliches haben kann.
"Diese Strecke", sagt Maria, "fährt nicht einfach durch die Berge. Sie fährt durch mein Leben."